Hypothetische Auslegung des Erblasserwillens

Nicht selten bleibt offen, was der Erblasser an einzelnen Stellen des Testaments bzw. des Erbvertrages gemeint haben könnte. Es liegt dann in den Händen des Gerichts eine Auslegung des Erblasserwillens entsprechend § 133 BGB vorzunehmen. Ist die hypothetische Auslegung bei einem Erbvertrag angezeigt, ist der objektivierte Empfängerhorizont gem. § 157 BGB zusätzlich zu berücksichtigen. 

Voraussetzung einer Auslegung: Unklarer Erblasserwille

Wenn der Erblasser klar und eindeutig seinen Willen manifestiert hat, gibt es für eine Auslegung kein Bedürfnis. D.h. es muss eine Unklarheit, eine Lücke oder ein Widerspruch bestehen. Erst dann ist anhand der letztwilligen Verfügung durch das Gericht der hypothetische Wille des Testierenden zu erforschen. Hierbei sind die Willenserklärungen nicht isoliert – allein dem Wortlaut nach – zu erfragen. Vielmehr ist der Gesamtzusammhang des Testaments von Bedeutung. Ziel ist es, der letztwilligen Verfügung einen rechtlichen Sinn zu geben.Die Formgültigkeit der Erklärung ist dabei Voraussetzung.

Hypothetische Auslegung tritt zunächst hinter der Erforschung des wirklichen Erblasserwillens zurück

Zunächst sind für die Erforschung des Willens des Erblassers sämtliche Anhaltspunkte im Testament sowie außerhalb liegende Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen. Insbesondere kommt dabei die Berücksichtigung von Urkunden oder die Vernehmung von Zeugen (Notare, Steuerberater, etc.) in Betracht. Erst wenn dieser Vorgang erfolglos verläuft, kann das  Gericht den Weg der Auslegung des hypothetischen Erblasserwillens beschreiten. Ein solches Vorgehen wird von der Rechtsprechung lediglich als die zweibeste Lösung eingestuft, da diese Methode den Erblasserwillen meist deutlich weniger trifft. Schließlich setzt das Gericht seine „Erfahrungswerte“ und „Ansichten“ an die des Erblassers. Zum Teil werden hierbei in rechtsdogmatisch nicht nachvollziehbarer Weise gesetzliche Auslegungsregeln (z.B. § 2069 BGB), die an sich das Gericht zu befolgen hätte, außer Kraft gesetzt.

Beispiel für die Feststellung des hypothetischen Erlasserwillens

Der Erblasser hatte zwei Kinder, die er jeweils zur Hälfte zum Nacherben einsetzte. Einer der beiden Kinder war mit ihm als Stiefkind nicht verwandt. Die leibliche Tochter schlug nach dem Tod des Erblassers die Erbschaft aus und verlangte ihren Pflichtteil. Anschließend verlangte der für den Erbteil der Tochter eingesetzte Enkel als Ersatznacherbe seinen Erbteil. Ergebnis der  hypothetischen Auslegung des Erblasserwillens durch das Gericht war, dass es dessen mutmaßlichem Willen nicht entsprochen hätte, wenn eine Erbenzweig durch Pflicht- und Erbteil doppelt begünstigt worden wäre. Die Auslegungsregel des § 2069 BGB würde in diesem Fall nicht gelten.

Aktuelle Rechtsprechung zur Feststellung des hypothetischen Erblasserwillen:

OLG Bamberg, Az: 5 U 34/12, vom 23.04.2013, ZEV 2014, 423-424 zur Verneinung der Anwendung von § 2069 BGB bei Ausschlagung der Erbschaft und Geltendmachung des Pflichtteils.

OLG Schleswig-Holstein, Az: 3 Wx 106/15, vom 18.01.2016, ZEV 2016, 225 Mutmaßliche Wille des Erblassers zum Fortbestand der Testamentsvollstreckung bei Abberufung des ursprünglichen Testamentsvollstreckers.

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Dr. Stefan Günther

Rechtsanwalt &

Fachanwalt für Erbrecht

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